Eröffnungsrede Michael Wider, Präsident VSE

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Mesdames et Messieurs, je vous souhaite la plus cordiale bienvenue au Congrès de l'électricité 2023, 

Signore e signori, vorrei darvi il benvenuto al Congresso sull'elettricità due mille venti tre, 

Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüsse Sie ganz herzlich zum Stromkongress 2023. 

Nach zwei Jahren Covid-Pause erwartet uns ein spannendes Programm. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und ihre Präsenz.

In den nächsten paar Minuten werde ich das letzte Jahr Revue passieren lassen und einen Ausblick in die Zukunft machen. Sie werden mir erlauben, dies aus meiner persönlichen Sicht zu tun.  

Wohl selten hat uns ein Jahr in einer derartigen Dichte aufgezeigt, in welche unzähligen Abhängigkeiten und Interdependenzen wir im Bereich der Energie verstrickt sind, die über unseren volkswirtschaftlichen Wohlstand mitentscheiden.   

Sieben Abhängigkeiten haben sich aus meiner Sicht 2022 akzentuiert, die wir überdenken und auf die wir reagieren sollten, um weiterzukommen.

 

Erstens: Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und seltenen Erden: 

Von den einen – den fossilen Energieträgern – wollen wir uns verabschieden; das andere – die seltenen Erden – brauchen wir, um dies tun zu können. Der Abschied aus der fossilen Welt wird in Europa ein steiniger Weg, insbesondere in Kombination mit wegfallenden Kernkraftkapazitäten wie in Deutschland. Der Krieg in der Ukraine hat uns vor Augen geführt, wie dramatisch sich eine zu einseitige Abhängigkeit auswirken kann. Doch auch der immer grössere Hunger nach seltenen Erden für die Erzeugung von Erneuerbaren, die E-Mobilität usw. führt zunehmend zu neuen Abhängigkeiten. 
 

Fazit: Von diesen Abhängigkeiten können wir uns nicht vollständig lösen, wir müssen sie aber unbedingt abschwächen. Es braucht Diversifizierung (bei Technologien und Lieferanten), viel mehr Forschung und Entwicklung, sowie eine starke Recyclingindustrie.

 

Zweitens: Die Abhängigkeit und Interdependenz von Realwirtschaft und Finanzwirtschaft 

Zuerst eine Vorbemerkung: Markt ist nicht gleich Markt: In seiner Struktur, seinem Funktionieren, seinen Prinzipien und seinen Teilnehmern unterscheidet sich der Grosshandelsmarkt stark vom Endkundenmarkt. Das wissen wir und ist doch wichtig zu betonen. Wenn ich Markt sage, meine ich den Grosshandelsmarkt. 

Wie in anderen Wirtschaftsbereichen, bewegen sich auch in der Energie Realwirtschaft und Finanzwirtschaft zunehmend auseinander. Strom ist Physik. Um das Produkt Strom hat sich eine Welt gebildet, die vergleichbar ist mit der Finanzwelt: Es wurden Produkte entwickelt, die nur mehr durch den Namen der Handelsplattform mit der Produktion und Lieferung von Strom verbunden sind.  

Exzess und krasses Beispiel dieses Zerwürfnisses waren die vom Gas getriebenen Stromrekordpreise und die von der Börse deswegen eingeforderten Liquiditätsgarantien vom letzten Frühjahr. Die Leipziger Börse hat über 40 Milliarden Liquiditätsgarantien angehäuft und damit zwei namhafte Unternehmen, Uniper und EDF, in die Verstaatlichung getrieben. Jedoch ist keine MWh  zusätzlicher Strom durch die europäischen Kupferkabel geflossen. 


Fazit: Physik und Kommerz würden wir gerne wieder näher beieinander sehen. Die Sorgen um die Versorgungssicherheit und die Konsequenzen der Preisverwerfungen haben uns gezeigt, dass es im Interesse aller ist, wenn Real- und Finanzwirtschaft nicht zu stark voneinander getrennt sind.

 

Drittens: Die Abhängigkeiten zwischen den Akteuren der Energiepolitik und Energiewirtschaft:

Die systemische Energiekrise geht nicht an der Schweiz vorbei. Seit über einem Jahr sind verschiedenste Krisenorganisationen der öffentlichen Hand und der Energiebranche am Werk, um eine mögliche Strommangellage zu verhindern. Nach dem ersten ungläubigen Augenreiben und den ersten Verantwortungszuweisungen hat man sich gefunden und geht die komplexen Herausforderungen, wo immer möglich, gemeinsam an. Wir sitzen nicht nur im gleichen Boot, sondern auch am selben Tisch und das ist gut so. 

Die Einführung der Regeln des Unbundling und die gesetzlichen Grundlagen in der Schweiz erlauben kein eindeutiges Zuweisen der Verantwortung für die Versorgungsicherheit. So lässt auch der viel zitierte Art. 6 des Energiegesetzes zu, dass man sich im Kreis dreht: «() Sie ist Sache der Energiewirtschaft. Bund und Kantone sorgen für die Rahmenbedingungen, die erforderlich sind ().» 


Fazit: In vielen Ländern Europas finden wir keine eindeutigen Verantwortungsträger für die Energieversorgungssicherheit. Versorgungssicherheit können Energiepolitik und Energiewirtschaft nur gemeinsam erreichen. Die Verantwortlichkeiten sind auf unterschiedlichen Schultern verteilt, und alle Träger dieser Teilverantwortlichkeiten sind voneinander abhängig. Umso wichtiger ist es, die Abhängigkeiten und das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Teilverantwortungsträgern also zwischen Bund, Kantonen, Gemeinden und Städten, der Energiebranche mit ihren Verbänden und Swissgrid sowie der ElCom zu trainieren und im Krisenfall in Zukunft rascher und gezielter zu mobilisieren. 

 

Viertens: Die Abhängigkeit von der europäischen Zusammenarbeit:

Politisch sind wir bekanntlich nicht Teil der EU, energie- und stromtechnisch sehr wohl. Das Swissgrid-Netz ist an 41 Stellen in das europäische Verbundnetz integriert. Im Jahre 2022 hat die Schweiz 29,5 TWh importiert, 26,7 TWh exportiert und 21,3 TWh sind durch unser Land geflossen.  

Weil wir nicht Teil des Binnenmarkts der EU sind, sitzt Swissgrid jedoch kaum mehr an den Planungs- und Koordinationstischen, kann im internationalen Netzbetrieb kaum mehr agieren, muss reagieren.  

Auch die Handels- und Austauschgeschäfte drohen für die Schweiz eingeschränkt zu werden. Selbst der Schweizer Regulator, die ElCom, ist nicht mehr eingeladen in europäischen Gremien. 

Gerade in einer Krise, wie wir sie jetzt erleben, wird offensichtlich, wie wichtig diese Zusammenarbeit für unsere Versorgungssicherheit wäre. 


Fazit: Von dieser Abhängigkeit wollen und sollen wir uns nicht lösen, eine energiepolitische Autarkie kann keine sinnvolle Lösung sein. Im Gegenteil, wir müssen uns als Player in Europa wieder in eine bessere Position bringen, die uns überhaupt Handlungsspielraum erlaubt. Politik und Energiebranche müssen alles unternehmen, um eine engere Kooperation mit unseren Nachbarn möglich zu machen und dafür zu sorgen, dass die Zusammenarbeit nicht weiter erodiert.

 

Fünftens: Die Abhängigkeiten im Trilemma:

Das Dreieck Versorgungssicherheit / Klima / Wirtschaftlichkeit bestimmt alle Lösungen. Nur wenn eine Investition allen drei Rechnung trägt, ist sie heute umsetzbar.  

Während gut 8 Jahren von 2011 bis 2018 galt in der Schweiz das Primat der Marktwirtschaftlichkeit, mit dem Glauben, der Energy-Only-Markt werde es richten und selbst die Versorgungssicherheit sei in Marktgesetzen am besten aufgehoben. 

Ab 2019 hat der Klimaschutz die Oberhand gewonnen, und diesem wurde sehr Vieles unterworfen. 

Seit Herbst 2021 mit der Evidenz der systemischen Energiekrise, verstärkt durch den Ausbruch des dramatischen Krieges in der Ukraine, spielt die Versorgungssicherheit die wichtigste Rolle.


Fazit: Dieses Hin und Her ändert nichts an der Relevanz aller 3 Ecken dieses fragilen Gleichgewichts. Es kann jedoch nicht sein, dass die Schweiz aus politischen Gründen in 10 Jahren die Prioritäten der Energiepolitik dreimal ändert. Noch einmal: Markt und Wirtschaftlichkeit / Klima / Versorgungssicherheit gehören alle drei dazu. Maslow würde die Versorgungssicherheit unweigerlich bei den physiologischen Bedürfnissen einordnen. Sie ist überlebenswichtig für die Gesellschaft und Wirtschaft unseres Landes. Danach sollten wir handeln.

 

Sechstens: Die Abhängigkeit und Interdependenz von Markt und Regulierung

Energie und Strom sind strategische Güter einer Volkswirtschaft, Güter des ersten Bedarfs, biens de première nécessité. 

Im Zuge der Liberalisierungswelle vor der Jahrhundertwende sind viele monopolitische Wirtschaftssektoren Europas in die freie Marktwirtschaft entlassen worden. So auch der Strombereich. Der Energy-Only-Markt wurde mit dem Ziel eingeführt, einen europäischen Einheitsmarkt zu schaffen: effizient, transparent, preissenkend. In der Zwischenzeit sind in der EU um die 115 Lenkungs-, Steuerungs- und Subventionsmassnahmen zugelassen.  

Das führt doch zu Fragezeichen beziehungsweise zwischenzeitlich bei vielen zur Einsicht, dass ein Energy-Only-Markt mit einer Merit Order, die grenzkostenbasiert ist, nicht mehr zukunftsfähig sein kann. Wieso? 

Die Merit Order ist grundsätzlich ein gutes Instrument zur Marktorganisation, weil sie immer die günstigste Technologie produzieren lässt. Aber auf Grenzkostenbasis wurde sie vor 25 Jahren in einer fossilen Welt eingeführt, um den erneuerbaren Energien den Einspeisevorzug zu gewähren und so den Weg zu ebnen. 

Jetzt zeigt sich einerseits, dass die Versorgungssicherheit in Europa und damit auch in der Schweiz, weil wir Price Taker und nicht Price Maker sind mit diesem System nicht gewährleistet ist.  

Und andererseits, dass die Energiewende in diesem System ihre eigenen Kinder frisst. Lassen Sie mich dies kurz ausführen: Wir verabschieden uns von den fossilen Energien und müssen sie durch den wichtigen und richtigen massiven Zubau der erneuerbaren Energien kompensieren. Doch das Problem von Windkraft- und Photovoltaikanlagen ist, dass sie sich auf dem auf Grenzkosten basierenden Spotmarkt ihren eigenen Preis kaputt machen. Wenn der Wind weht und die Sonne scheint, produzieren alle Windkraft- und PV-Anlagen in derselben Wetterzone gleichzeitig Strom. Sobald eine gewisse Anzahl solcher Anlagen im System ist, hat dies einen Preiseffekt an der Strombörse: Da viel Strom mit Grenzkosten von null angeboten wird, sinkt der Börsenpreis, da nun Kraftwerke mit teureren Grenzkosten nicht zum Einsatz kommen und Kraftwerke mit günstigeren Grenzkosten den Börsenpreis bestimmen. Die Erneuerbaren werden sich selbst, inklusive der Wasserkraft, unrentabel und nicht refinanzierbar machen.  

Bestimmt kennen Sie die Denkfabrik «Agora Energiewende», die auch die deutsche Regierung beraten hat. Sie hat in einem Paper genau das auf den Punkt gebracht, was auch mich umtreibt. 


Fazit: Ist ein Marktgefüge weder im Stande, Investitionsanreize zu schaffen noch die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, kann es doch nicht allen Ernstes aufrecht erhalten werden, nur weil es die Verwaltung in Brüssel so will. Sind die Erneuerbaren unrentabel und nicht refinanzierbar, gibt es nur ein Mittel dagegen: Staatliche Eingriffe und Subventionen werden Abhilfe schaffen müssen. 

Dies ist ein verführerischer Schritt: Es gibt nur zwei Geldbeutel der des Konsumenten (also der Produktepreis) und der des Bürgers (also die Steuern). Die Vergangenheit hat gezeigt, wie viel einfacher es doch ist, über die öffentlichen Gelder zu finanzieren als auf der kWh einen Zuschlag zu erheben. 

Es braucht deshalb jetzt Grundsatzüberlegungen zur Marktgestaltung in Europa und der Schweiz: Kapazitätsmärkte, Merit Order auf Durchschnittskostenbasis oder Vollkostenbasis, Contract for difference oder andere strukturierende Modelle. Diese Diskussion werden bereits intensiv geführt, und sie werden weiter an Fahrt aufnehmen.
 

Die siebte und letzte Abhängigkeit ist die offensichtlichste und trotzdem vielleicht die schwierigste. 

 

Siebtens: Es ist die Abhängigkeit der Zukunft vom Heute

Was müssen wir im Heute unternehmen für die Zukunft, die noch weit weg ist, damit wir die gewollte und angestrebte Dekarbonisierung bis 2050 schaffen können? 25 Jahre sind viel (siehe 1997), aber eben auch wenig in der Welt der Energie und der Energiewende.  

Mit der Empa hat der VSE vor Kurzem die interessante Studie «Energiezukunft 2050» veröffentlicht. Diese Studie kommt zum Schluss, dass ein «offensiv integriertes Szenario» für die Schweiz bis 2050 das robusteste und günstigste Energiesystem bringen würde, das die Versorgungssicherheit gewährleistet und die Klimaziele erreichbar macht.  

  • Offensiv im Sinne der gesellschaftlichen Akzeptanz der Energiewende in derSchweiz. Offensiv auch im Sinne des Beitrags der Branche zum Gelingen. 

  • Integriert unterstreicht, dass das Verbleiben im Energie- und Strom-Europa für die Schweiz die beste Option ist. 

Die guten News aus der Studie zuerst:  

  • Der fast ausschliesslich importierte Primärenergiebedarf halbiert sich in diesem Szenario; 

  • die Elektrifizierung des Energiesystems bringt einen Effizienzgewinn von rund 40% (vor allem bei der Mobilität und Wärme) 

  • der CO2-Ausstoss geht um das Zehnfache zurück. 

Herausfordernd für Gesellschaft, Politik und uns als Energiebranche als einer der Hauptakteure der Lösungen wird aber sein: 

  • Die Elektrifizierung wird einen Mehrverbrauch von berechneten 34 TWh mit sich bringen. Diese Zahl ist neben dem Dekarbonisierungseffekt auch hoch, weil wir bis 2050 die Kernkraft ersetzen müssen. 

  • Das heisst linear gerechnet braucht es 1,4 TWh Zubau pro Jahr; 

  • Das heisst auch: Weiterfahren wie heute darf keine Option sein. 


Fazit: Die Zukunft hängt von den jetzt durch uns gestellten Weichen ab; das Erreichen einer robusten, bezahlbaren Versorgungssicherheit und der Klimaziele hängt von unserem Willen, unserem Engagement als Branche und der Akzeptanz in Politik und Gesellschaft ab.  

 
Diese 7 Abhängigkeiten und Interdependenzen sind nicht neu – aber ihre Effekte haben sich im letzten Jahr so deutlich gezeigt wie nie zuvor. Wir haben – als Branche, Gesellschaft, Politik – akuten Handlungsbedarf in allen diesen Dimensionen.  

Aber nicht im Tempo der Vergangenheit – die Versäumnisse der Vergangenheit wiegen schwer und rächen sich in der Energiekrise doppelt: Die grossen Investitionen in Produktionsanlagen und Netzinfrastrukturen liegen Dekaden zurück, die Zusammenarbeit mit der EU ist seit Jahren blockiert, beim Ausbau der Erneuerbaren treten wir an Ort und Stelle.  

Die Zeit rennt uns davon: Gelingt es uns nicht jetzt, die richtigen Prioritäten zu setzen und ins Tun zu kommen, schaffen wir nicht nur keine Dekarbonisierung, sondern gefährden die Versorgungssicherheit der Schweiz. 

Das soll uns nicht entmutigen, sondern ermutigen, die Zukunft zu gestalten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen spannenden Stromkongress.

Zur Person

Michael Wider ist Präsident VSE und Head of Generation Switzerland Alpiq Holding

Michael Wider