STROMKONGRESS 2024 | Lösungswege in die Energiezukunft lassen sich nur im Dreieck Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Klimaneutralität finden, sagte VSE-Präsident Michael Wider in seiner Eröffnungsrede.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

«Wohl selten hat uns ein Jahr in einer derartigen Dichte aufgezeigt, in welch unzähligen Abhängigkeiten und Interdependenzen wir im Bereich der Energie verstrickt sind, die über unseren volkswirtschaftlichen Wohlstand mitentscheiden.» 

Das habe ich vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt. Unwissend, dass dieser Satz zwölf Monate später noch zutreffender sein würde. Noch akzentuierter zeigen sich die Folgen dieser Abhängigkeiten heute: 

Kriegerisches Geschehen – Klima-Katastrophen – geopolitische Risiken um die wirtschaftsnotwendigen Rohstoffe – Energie- und Stromkrise – Kostenexplosionen – Industrieflucht aus Europa – Fachkräftemangel – ein krisenschwaches Europa – Immigration – Menschen, die vor dem Krieg flüchten, politische Flüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge – Verschuldung von Industrienationen – Überteuerung des Sozialstaates – Überalterung der westlichen Gesellschaft … 

Ein Wald voller wankender Bäume. Dieses Umfeld fordert alle. Unsicherheiten und Zweifel überkommen uns. Sicher ist nur, dass das Unstete längst zur Konstante geworden ist.

Wie also in dieser Situation die Zuversicht nicht verlieren? 

Leider, oder manchmal auch zum Glück, gehören wir bei einem Teil dieser multiplen Krisen nur zur Kategorie der mittragenden und mitfühlenden Zuschauer. 

Bei anderen sind wir nicht, dürfen wir nicht Zuschauer sein, sondern wir sind wichtige, verantwortungsbeladene Akteure. Eine gute Rezeptur für Zuversicht ist, sich auf das zu konzentrieren, auf das wir Einfluss haben, Einfluss haben wollen, Einfluss haben müssen – auf das, was wir verändern und gestalten können. 

Vor zwei Jahren sind wir in eine noch nicht korrigierte europäische Energiekrise geraten. Ihren Anfang hat sie mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine genommen. Verdrängt wurde oft, dass die geopolitischen Abhängigkeiten von Ressourcen und der massive Abbau von steuer- und planbaren Kraftwerken in Europa die eigentlichen und einschlägigen Ursachen waren. Aktuell scheint sich das Umfeld in den Bereichen Strom und Energie etwas zu beruhigen. Scheint. Und auch wenn, ändert das nichts an der Tatsache, dass wir als Energiebranche, wir als Schweiz weiterhin vor entscheidenden Herausforderungen stehen. 

Lösungswege in die Energiezukunft lassen sich nur – und das ist nicht neu – im Dreieck «sauber, sicher und bezahlbar» finden. Anders ausgedrückt: Richtungswechsel und Lösungen müssen den drei Maximen Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Klima in jedem Fall gerecht werden. Und diese stehen in einem fragilen Gleichgewicht.   

Lassen sie mich kurz auf dieses Dreieck eingehen. Ich tue es in meiner persönlichen Prioritätenfolge:

Sicher wie Versorgungssicherheit: 

Unter «Versorgungssicherheit» versteht man in der Energiewirtschaft die ununterbrochene Verfügbarkeit von Strom zu jeder Zeit. Dazu brauchen wir zumindest eine intakte, stabile Netzinfrastruktur und verfügbare Produktionskapazitäten. 

Die beschlossene Dekarbonisierung wird zu Elektrifizierung führen und damit den Strombedarf massiv ansteigen lassen. Gemäss unserer Studie «Energiezukunft 2050» schätzen wir, dass der Landesverbrauch von rund 63 TWh auf 80-90 TWh bis zum Jahr 2050 steigen wird – also bereits in 26 Jahren. Mit dem geplanten Stilllegen der Kernkraftwerke in den 2040er- oder 2050er-Jahren klafft ein Stromdefizit von bis zu 50 TWh. 

Auch wenn vom Volk gutgeheissen, braucht jede Strategie, sei es die Energiestrategie eines Landes oder die Unternehmensstrategie einer Firma, ihre Anpassungen. Am 17. Mai 2017 bei der Volksabstimmung zur Energiestrategie war die Klimadebatte noch nicht so weit gediehen und die Energiekrise noch nicht derart sichtbar. Importe als wesentlicher Bestandteil der damals beschlossenen Energiestrategie schienen sinnvoll. Heute wissen wir: Das wird zunehmend schwierig. 

Sechs Jahre haben wir gebraucht, um das Bundesgesetz, den Mantelerlass, zur Umsetzung der Energiestrategie 2050 zu beschliessen. Und selbst dieser wichtige, richtige Beschluss, der vom Ständerat einheitlich und vom Nationalrat mit nur 19 Gegenstimmen gefasst wurde, wird nun durch ein Referendum in Frage gestellt. Partikularinteressen und fehlende Kompromissbereitschaft gefährden so die Versorgungssicherheit. 

Wir als Branche müssen alles unternehmen, um mitzuhelfen, die Versorgungssicherheit im gegenwärtigen Umfeld sicherzustellen.  

  • Wir müssen aufklären, erklären, sensibilisieren. Immer und immer wieder. 

  • Wir müssen die notwendigen Netz-, Produktions-, Handels- und Verkaufsinfrastrukturen sicherstellen. 

  • Wir müssen die Anforderungen an die Rahmenbedingungen dazu klar, unmissverständlich und branchenübergreifend entlang der ganzen Wertschöpfungskette formulieren. Und zwar nicht jeder für sich und in seinem Kämmerlein, sondern gemeinsam und in einem verantwortungsvollen und gesunden Mix von notwendiger Wirtschaftlichkeit und volkswirtschaftlichem Verantwortungsbewusstsein. 

Und schliesslich müssen wir unermüdlich und konsequent Projekte umsetzen, auch wenn dieser Weg mühsam, geld-, nerven- und kräfteraubend ist. Das ist einer der Beiträge, die wir leisten müssen, um die Versorgungssicherheit der Schweiz zu stärken.

Bezahlbar wie Wirtschaftlichkeit: 

Über 600 Verteilnetzunternehmen gibt es in der Schweiz. Eine Grundcharakteristik eines überlebensfähigen Unternehmens ist, dass seine Einnahmen höher sind als seine Ausgaben. Die Einnahmen sind für viele dieser über 600 Unternehmen zum grossen Teil regulatorisch bestimmt. Der weit kleinere Teil ist dem Markt ausgesetzt. 

Für andere wenige Unternehmen – vor allem für die grossen Produzenten – ist das umgekehrt. Sowohl die Netzinfrastruktur als auch die Produktionsanlagen sind sehr kapitalintensiv und haben einen langen (heute klar zu langen) Planungsbedarf. Gerade beim Ausbau der Produktion mit erneuerbaren Energien wissen wir, dass diese Projekte ohne Subventionen wirtschaftlich kaum umsetzbar sind.  

Keine Industrie investiert in eine Infrastruktur, die nicht wirtschaftlich ist. Leider gibt der durch Eingriffe verzerrte Markt wenig Anreiz, ohne Beihilfen in Produktionsanlagen zu investieren. Subventionen sind nicht nur Starthilfen, sondern mittlerweile fester Bestandteil des Marktgefüges geworden. Das kann man gut finden oder nicht.  

Persönlich bin ich der festen Überzeugung, dass mehr Marktgeschehen mit offenem, transparentem Handeln für Investoren und Kunden weit besser und nachhaltiger ist als Subventionsberge – auch für die Schweiz.  

Wir als Branche haben im Thema Wirtschaftlichkeit einen unternehmerischen sowie einen volkswirtschaftlichen Auftrag. Über 90% unserer Firmen gehören der öffentlichen Hand. 

Tragbare Risiken einzugehen, gehört zum Unternehmertum. Im Bereich der Netze und im Bereich der grundversorgten Kunden wollte der Gesetzgeber dieses Risiko tragbar gestalten. Im Bereich der Produktion sollten wir uns stark dafür machen, marktbegleitende Mittel und Wege – sprich Rahmenbedingungen – einzuführen, die Risiken langfristig tragbar machen. Das müssen nicht Subventionen sein. Contract for Difference, Kapazitätsmärkte oder Ausschreibungsmechanismen sind probatere und nachhaltigere Wege. 

Und schliesslich liegt es auch an uns, in der energiepolitischen Debatte, vermehrt mit Zahlen und Fakten aufzutreten. Wir sind zu qualitativ, zu wenig quantitativ unterwegs, um unsere Interessen und damit die der Versorgungssicherheit der Schweiz zu vertreten.

Sauber wie Klimaneutralität: 

Sauber heisst in unserem Kontext CO2-frei. Am 9. Juni wird das Schweizer Stimmvolk voraussichtlich über den Mantelerlass und damit über Ziele im Klimaschutz, über die Stärkung der Versorgungssicherheit mit inländischen, erneuerbaren Energien abstimmen müssen.  

Etwas mehr als 25% des schweizerischen Energieverbrauchs erzeugen wir heute annähernd CO2-frei – dank/mit Strom. Die konsumbasierten CO2-Ausstösse der Schweiz belaufen sich auf rund 107 Megatonnen/Jahr, was uns in der Pro-Kopf-Rechnung auf Platz 68 der Weltrangliste der «Verschmutzer» bringt. 

Natürlich werden wir – die Schweiz – mit der Reduktion unseres 0,1-Prozent-Emissionsanteils die Welt nicht retten. Aber wir können und sollten es uns leisten, mit dem besten Beispiel voranzugehen: die CO2-Emissionen auf ein Minimum beschränken, den steigenden Strombedarf langfristig sicherstellen, und dies zu einem vertretbaren Preis. 

Die Klimathematik bringt Strom und die anderen Energieanwendungen wie Mobilität und Wärme zusammen. Es ergeben sich für unsere Branche neue Möglichkeiten, unternehmerisch und im Sinn einer verantwortungsvollen Klimapolitik einen Beitrag zu leisten. Klima muss und wird ein Wirtschaftszweig werden, möglichst einer ohne Subventionen. Wenn sich Investitionen in die Dekarbonisierung und damit ins Klima lohnen, dann ist sein Schutz sichergestellt.

Eng verbunden mit Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Klima, müssen wir weiter entscheidende Schritte unternehmen. 

  1. Wir brauchen Lösungen, damit wir nicht nur passiv physikalisch Teil des europäischen Stromnetzes sind, sondern auf technischer, kommerzieller und regulatorischer Ebene auch wieder mitwirken können. Die positiven Signale des Bundesrats der letzten Wochen machen uns zuversichtlich, dass wir weiterkommen.  

  1. Wir brauchen den Mantelerlass, um endlich von der Debatte zum Handeln umzuschalten und ins Tun zu kommen. Er liefert die Instrumente, um beim Umbau des Energiesystems weiterzukommen. Wir werden unsere Ziele verfehlen, wenn wir nicht massiv mehr Projekte umsetzen. Der VSE wird alles unternehmen, um ein allfälliges Referendum zu bekämpfen. 

  1. Wir brauchen parallel zu dieser Umsetzungsphase der nächsten fünf bis zehn Jahre den Blick auf die lange Frist und müssen uns im Klaren darüber sein, was wir tun, wenn wir unsere Zielsetzungen (Mantelerlass) für das Jahr 2035 (35 TWh erneuerbare Energie ohne Wasserkraft) und 2050 (Dekarbonisierung) nicht erreichen. 2,2 TWh pro Jahr bis 2035 (respektive 1,4 TWh pro Jahr bis 2050) müssen wir zubauen, um diese zu erreichen. Dazu braucht es einen starken politischen und gesellschaftlichen Willen. Sollte uns das nicht gelingen, bleibt die Problematik dieselbe, nur gäbe es nicht sehr viele Alternativen: Importe, Gaskraftwerke oder neue Generationen von Kernkraft sind dann im Dreieck «sauber, sicher und bezahlbar» abzuwägen.  

  1. Wir brauchen als Branche Zuversicht und Mut und wir haben gute Gründe, zuversichtlich und mutig zu sein. Wir haben das Glück und die Chance, in einem riesigen Wachstumsmarkt tätig zu sein. Aus einer Betrachtung der Gesamtwirtschaft ist das doch momentan die Ausnahme. Es eröffnet sich uns eine Landschaft voller Opportunitäten. Diese sollten wir nutzen und die Zukunft gestalten. 

 

Zur Person

Michael Wider ist Präsident VSE und Head of Generation Switzerland Alpiq Holding

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