Matthias Horx ist Zukunftsforscher und beschäftigt sich mit verschiedensten Zukünften. Mit dem Blick fürs grosse Ganze sagt er eine erfolgreiche Energiewende voraus, auch weil die Alternative dazu keine ist. Allerdings brauche es dazu eine Verschiebung des Fokus weg von dem, was nicht geht, hin zu dem, was geht.

Matthias Horx, gelingt der Weltgemeinschaft die Energiewende?
Matthias Horx: Kann sie sich erlauben, sie nicht zu schaffen? Irgendwann sind alle fossilen Energiequellen verbrannt. Dann wird es auf der Erde fünf oder sechs Grad heisser sein. Das wäre die Alternative. Die Frage ist daher eher, auf welche Art und wie schnell die Energiewende zu schaffen ist.

Auf welche Art und wie schnell ist die Energiewende zu schaffen?
Viele wünschen sich auf eine solche Frage die eine prophetische Antwort, im Sinne von «So wird es sein». Das ist nicht möglich, weil sich die Zukunft entwickelt und weil sie verschiedene Bifurkationspunkte passiert. Es geht vielmehr darum, verschiedene Szenarien – basierend auf Daten, Analysen, Modellen oder auch Wahrscheinlichkeitsberechnungen – zu entwickeln.

Welche Szenarien haben Sie zur Energiewende entwickelt?
Wir betreiben ein grosses Projekt zu diesem Thema: die Klimaregnose. Darin geht es nicht um die Prognose von Einzelteilen, sondern darum, damit das Puzzle zusammenzusetzen. Beispielsweise mit welchen bestehenden Technologien kommen wir weg von den Fossilen? Wie werden sich diese Technologien entwickeln? Wie können wir unsere Abhängigkeit von den Fossilen verringern respektive überwinden? Da entsteht ein plausibles Bild, dass wir bis 2050 grösstenteils von fossilen Energien wegkommen werden.

Die Tendenz deutet momentan aber eher auf eine Verschärfung der Situation hin. Macht Ihnen das keine Sorgen?
Aufgrund unserer Klimaregnose halten wir es für sehr wahrscheinlich, dass die Spitze des CO2-Ausstosses noch in diesem Jahrzehnt erreicht wird. Bis die Treibhausgase nicht mehr in der Atmosphäre sind, dauert es Jahrzehnte, das ist klar. Aber wir werden das hinkriegen, denn wir haben die nötigen Instrumente, und die Energiekrise sowie der Krieg in der Ukraine zwingen uns dazu.

Im Zuge des Krieges in der Ukraine wurde die Energie knapp und teuer. In Europa macht man sich Sorgen, ob man im Winter frieren muss. Als Folge davon werden beispielsweise in Deutschland Kern- und Kohlekraftwerke weiterbetrieben respektive wieder in Betrieb genommen. Und im aargauischen Birr wird ein Gaskraftwerk aus dem Boden gestampft. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
In der öffentlichen und medialen Betrachtung starren wir bloss auf das, was nicht geht. Wir müssen unsere Betrachtungsweise aber fundamental ändern und erkennen, was geht. So erkennten wir beispielsweise, wie sensationell sich der Preis pro Kilowattstunde Solarenergie nach unten bewegt hat. Der Krieg Russlands ist ein endfossiler Krieg: der Versuch, ein Geschäftsmodell aufrecht zu erhalten, das auf Verbrennung und Vernichtung von Ressourcen beruht. Der Krieg wird daher die Entwicklung weg von fossilen Energiequellen extrem beschleunigen, weil er uns unsere fatale Abhängigkeit davon vor Augen führt.

Die Wahl des Jahres 2050 als Anker, an dem Klima- und Energiestrategien festgemacht werden, ist ja etwas arbiträr. Bräuchte es eventuell einen langfristigeren Fokus?
Hätte man 2060 statt 2050 gewählt, spielte das nur eine untergeordnete Rolle. Wir müssen stattdessen diesen negativen Frame – also die negative Erwartungshaltung, welche zu einer negativen Prophezeiung führt – überwinden. Doch die Gesellschaft denkt und handelt noch immer fossil. Dabei kriegt sie gar nicht mit, wie viel sich schon verändert hat. So gesehen ist das Jahr 2050 wohl schon sinnvoll.

Wie kann sich die Gesellschaft selbst überzeugen, dass sie vom fossilen Denken und Handeln abkommen muss?
Unser Wohlstand basiert auf fossiler Energie. Das sind wir seit der Industrialisierung so gewohnt. Von dieser Bewusstseinsprägung, welche durch Gewohnheiten entstanden ist, müssen wir unseren Geist befreien. Wir müssen anders in die Welt schauen, andere Dinge wahrnehmen. Das ist für mich als Zukunftsforscher die Hauptaufgabe. Denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Menschen gute Prognosen gar nicht wahrnehmen, und zwar, weil sie sie nicht glauben wollen.

Schlimme Ereignisse mit grossen Auswirkungen werden also eher wahrgenommen. Warum?
Das ist ein Mechanismus der Medien. Dabei gibt es zwei Ausprägungen: Einerseits haben wir den naiven, technizistischen, zukunftsgläubigen Futurismus, der uns das Blaue von Himmel herab verspricht. Andererseits gibt es auch den apokalyptischen Wahn. Beides ist natürlich vollkommen unterkomplex und nicht Gegenstand der Zukunftsforschung. Wir betätigen uns eher als Possibilisten.

Die Erbauer der heutigen Stromnetze schauten damals auch weit in die Zukunft und haben die Netze so dimensioniert, dass sie auch Jahre nach ihrer Inbetriebnahme den Anforderungen weitgehend genügen. Wie weit müssen wir heute schauen?
Nicht mehr weit, sondern komplex. Die heutigen Netze wurden als Verteilnetze gebaut, womit grosse Kraftwerke Energie in die Haushalte und Fabriken verteilen. Das ist ein überkommenes Modell. Die Zukunft ist eine Netzwerkwelt, in die Millionen von Stromerzeugern integriert werden müssen, damit sie miteinander kooperieren und kommunizieren können. Das erfordert kybernetische Operationen, die nur hochentwickelte IT, also künstliche Intelligenz, zu leisten imstande ist.

Die Schweiz hat viele grosse Wasserkraftwerke. Wie sieht deren Zukunft in der Energieversorgung der Zukunft aus?
Wasserkraftwerke werden auch in einer Zukunft mit weniger Grosserzeugern eine Rolle spielen. Aber das Netz der Zukunft wird anders strukturiert sein müssen als das bestehende, um all die Lastflüsse bewältigen zu können. Dazu braucht es ein fluides Metasystem, das sich in den nächsten Jahrzehnten organisch entwickeln wird – wie ein Nervengeflecht.

Ist eine solche Entwicklung planbar? Sie ist zwar angestossen, kommt aber nur sehr langsam voran.
Dazu müssen die Schnittstellen definiert und geöffnet werden. In meinem Haus produziere ich etwa sechzig Prozent der Energie, welche ich benötige, selbst. Dank intelligenten Schnittstellen speise ich Strom in mein E-Auto, wenn ich mehr produziere, als ich brauche. Solche bidirektionalen Vorgänge werden zunehmen. Der nächste Schritt wird sein, die starken Batterien aus den E-Fahrzeugen zur stationären Nutzung zu brauchen. Unser nächstes Elektro-Auto soll also unser Haus speisen können.

All diese Entwicklung gehen nur sehr langsam vonstatten. Sind althergebrachte Geschäftsmodelle noch zu rentabel?
Es ist aktuell noch immer leichter, mit fossiler Energie als mit dezentraler Energieproduktion Marge zu erzielen. In dem Moment, wo sich das ändert, wird alles kippen. Das zeigt der Krieg in Russland überdeutlich: Es wird zu teuer, die fossilen Formen aufrechtzuerhalten, also konzentrieren wir uns auf neue Formen.

Auf der anderen Seite werden grosse Infrastrukturprojekte bekämpft, welche der Produktion von Energie aus erneuerbaren Quellen dienen sollen. Ein Widerspruch?
Beim Technologiewandel gab und gibt es immer Widerstand. Beim Übergang von der Kutsche zum Auto kam es beispielsweise zu Kutscheraufständen. Das ist der Lärm des Wandels.

Zur Person

Matthias Horx (67) ist Trend- und Zukunftsforscher, Publizist und Visionär. Er arbeitete erst als Zeichner und Journalist. 1998 gründete er das Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main und in Wien. Matthias Horx wird am Schweizerischen Stromkongress vom 18./19. Januar 2023 in Bern das Schlussreferat halten.

Matthias Horx