Beim Ausbau der Erneuerbaren fehlt an Akzeptanz und kollektiven Handlungen, sagt Politologin Isabelle Stadelmann.

Isabelle Stadelmann, die Schweizer Energiebranche ist der Verzweiflung nahe. Die Bevölkerung will die Energiewende. Doch bei konkreten Projekten für Anlagen zur Energieproduktion aus Erneuerbaren formiert sich stets Widerstand. Wie erklären Sie sich diese Ambivalenz?

Isabelle Stadelmann: Diese Verhaltensmuster sind nicht neu. Es gibt sie schon lange, und so gut wie jedes Infrastrukturprojekt ist davon betroffen. Begründet liegen sie darin, dass es verschiedene Formen der Akzeptanz gibt. Ich kann beispielsweise Windenergie und die dazu nötigen technologischen Massnahmen generell gut finden. Dann spricht man von soziopolitischer Akzeptanz. Ich kann aber gleichzeitig ein konkretes Windkraftprojekt ablehnen, weil mir vielleicht die vorgesehene Stelle nicht passt oder die Ausgestaltung, die Grös­se, die Wirtschaftlichkeit, die Farbe. Hier fehlt es an lokaler Akzeptanz. Das ist eine differenzierte Ablehnung, die allenfalls überwunden werden kann, wenn das Projekt aus meiner Sicht besser gemacht wird.
 

Was, wenn mein geplantes Windrad durch seine Wirtschaftlichkeit, seine Effizienz und seine modische Farbgebung besticht und folglich schon das bestmögliche Projekt darstellt? Wie kann ich das noch besser machen?

Wahrscheinlich müssten Sie dann von der Idee wegkommen, die aus technologisch-ökonomischer Sicht beste Lösung umzusetzen. Normalerweise bestehen Varianten zu einem Projekt. Oft wäre aus Unternehmenssicht wohl auch das zweitbeste Projekt eine gute Lösung – und möglicherweise eine viel bessere für die davon Betroffenen.
 

Welche Vorgehensweise empfehlen Sie Unternehmen?

Man muss zu Abstrichen bereit sein. Am Ende setzen Sie dann vielleicht nicht das beste, sondern ein etwas weniger gutes, aber dafür breit akzeptiertes und somit machbares Projekt um. Es ist auch hilfreich, potenzielle Gegnerinnen und Gegner möglichst früh in den Prozess einzubeziehen. Das verringert das Risiko, dass gegen das Projekt Einsprache erhoben wird.
 

Ausschliessen lässt sich dieses Risiko aber nicht, oder?

In der Tat kann es in gewissen Situationen an einigen wenigen Personen hängen, ob ein Projekt erfolgreich ist oder scheitert respektive verzögert wird. Wenn jemand hinstehen, vermitteln und überzeugen kann, beispielsweise ein Gemeindepräsident oder eine Regierungsrätin, hilft das ungemein. Handkehrum kann eine solche Person ein Projekt aber auch zu Fall bringen.
 

Spielen Partikularinteressen heute eine grössere Rolle?

Partikularinteressen hat es schon immer gegeben. Problematischer ist die aktuell starke Polarisierung der Gesellschaft. Dadurch gelingt es einer Minderheit, die sehr laut ist und es versteht, gegen wichtige und sinnvolle Projekte zu mobilisieren, solche Vorhaben zum Scheitern zu bringen. Das ist umso bedauerlicher, weil der Bevölkerung aktuell stärker denn je bewusst ist, dass etwas gegen den Klimawandel und für die Energietransition getan werden muss.
 

Was müssen Projektinitianten noch besser machen?

Je eher man mögliche Kritiker und Kritikerinnen an Bord holt, umso besser. Vor allem Umweltverbände, die bei In­­frastrukturprojekten oft aufgrund der Einschnitte in die Natur eher skeptisch sind, müssen früh einbezogen werden, um ihre Anliegen in das Projekt zu integrieren und das Risiko einer späteren Einsprache zu minimieren.
 

Was können Gesetzgeber und Politik dazu beitragen?

Ich denke dabei vor allem an kantonale Richtpläne, in denen festgehalten werden kann, welche Projekte wann wo Vorrang haben. Je nach Ausgestaltung könnte dieses Vorgehen den Umgang mit Einzelinteressen erleichtern, weil die Sachlage aufgrund der kantonalen Regulierungen klar ist.
 

Wird so nicht einfach die Diskussion von den EVU zu den Behörden verschoben? Auch gegen einen Richtplan kann Einsprache erhoben werden...

Richtpläne sind auf einem höheren Level, einer abstrakteren Ebene angesiedelt, und sie adressieren allgemeine gesellschaftliche Interessen. Hier muss die Gesellschaft die Frage beantworten, ob sie den Klimawandel mit erneuerbaren Energien bekämpfen und dieser Sache Vorrang geben will. Auch dieses Vorgehen ist nicht einfach und bedingt möglicherweise erfolgreiche Volksabstimmungen. Aber auf dieser Ebene spielt die Zeit für die Veränderungen. Und je abstrakter, umso eher findet man Unterstützung. Je konkreter, umso eher formiert sich Widerstand.
 

Sie schlagen also vor, übergeordnet Voraussetzungen für den Ausbau erneuerbarer Energie zu schaffen? Das ist eine regelrechte Antithese zum neuen Raumplanungsgesetz...

Im Moment wird die Energietransition noch nicht übergeordnet behandelt. Die gesetzlichen Grundlagen erschweren den Ausbau und eröffnen Partikularinteressen viele Möglichkeiten zum Widerstand. Die Gesellschaft muss dahin kommen, dass diese Gesetze kantonal und national so ausformuliert werden, dass lange und repetitive Gänge durch alle Instanzen nicht mehr quasi die Regel sind. Leider sind wir noch nicht so weit. Das zeigte sich beim abgelehnten revidierten CO2-Gesetz, und es zeigt sich auch bei der Bewältigung der Pandemie: Wir haben ein gesellschaftliches Ziel. Um das zu erreichen, wären kollektive Handlungen nötig. Doch die Bewältigung scheitert an individuellen Interessen. Zu viele denken und handeln zu kurzfristig, zu kostenorientiert und zu egoistisch.
 

Das tönt nicht sehr optimistisch.

Ich bin auch nicht sehr optimistisch. Wahrscheinlich werden wir nur in kleinen Schritten vorankommen. Immerhin können bisweilen auch vermeintlich unbedeutende Schritte eine grosse Wirkung haben. Ein Beispiel dafür ist die CO2-Abgabe im CO2-Gesetz aus dem Jahr 2000. Zuerst galten nur freiwillige Massnahmen. Erst wenn bestimmte Richtwerte nicht erreicht würden, sollte subsidiär eine verbindliche Abgabe eingeführt werden. Die Akteure dachten damals, dass sie diese freiwilligen Ziele erreichen können, weshalb sich eine Mehrheit für die CO2-Abgabe fand.
 

War das clever oder Zufall?

Das war wohl eher Zufall. Aber er führte dazu, dass die Schweiz nun eine solche Lenkungsabgabe hat. Diese wurde aber nicht als solche eingeführt, sondern beruhte auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner. Der damals im Gesetz festgelegte Mechanismus entfaltete – ursprünglich gar nicht intendierte – Effekte, nämlich die wiederholte Erhöhung der CO2-Abgabe aufgrund nicht erreichter Zielwerte. Es kann also gelingen, einen solchen Richtplan oder ein anderes Gesetz durchzubringen. Der Zufall spielt immer ein wenig mit. Wäre das revidierte CO2-Gesetz im Herbst statt im Juni zur Abstimmung gekommen, nach diesem Sommer mit den vielen Überschwemmungen und ohne die beiden Pestizid-Initiativen, wäre es wohl angenommen worden. Man muss dranbleiben. Irgendwann wird möglicherweise ein Tipping Point erreicht, von dem aus es einfacher wird. Aktuell ist der grosse Wurf auf einmal im schweizerischen System aber kaum möglich.
 

Weil in der Schweiz nicht von oben nach unten diktiert werden kann?

Der Hang des Menschen, den langfristigen Nutzen zu unterschätzen und die kurzfristigen Auswirkungen und Kosten zu überschätzen, ist in einer direkten Demokratie und in einem sehr partizipativen System, in dem einzelne Personen Einsprachen machen können, noch viel gewichtiger. Die Menschen müssen sich Regeln auferlegen, welche eigentlich ihren individuellen kurzfristigen Interessen zuwiderlaufen.
 

Wie können Politik und Energiebranche mehr Akzeptanz für Projekte für erneuerbare Energien erreichen?

Politisch ist das schwierig. Energieversorger spielen aber eine wichtige Rolle. Sie müssen auf ihre Kunden zugehen und erneuerbare Energien sehr einfach anbieten, beispielsweise indem sie Strom aus Erneuerbaren als Standard-Produkt definieren. Gleichzeitig braucht es ein Umdenken: Die Unternehmen müssten eher im Inland in erneuerbare Lösungen, die ökonomisch vielleicht nicht so lukrativ sind, investieren statt im Ausland in Projekte, welche die hiesige Energietransition nicht voranbringen. Wenn solche Inhalte nur von der Politik kommen, gibt es – vor allem angesichts der aktuellen Polarisierung in der Gesellschaft – automatisch Widerstand. Wenn sie auch von wirtschaftlicher Seite gepusht werden, kommt das bei der Schweizer Bevölkerung besser an.
 

Doch um im Inland zu investieren, fehlen die nötigen Rahmenbedingungen.

In einem Forschungsprogramm des BFE werden diese Rahmenbedingungen analysiert, und es werden Änderungsvorschläge erarbeitet. Investitionen sollen für Energieversorger in der Schweiz wieder attraktiver werden. Das Thema ist also erkannt, aber dann hapert es wieder an der politischen Umsetzung. Alles ist miteinander verbunden und dadurch komplex.
 

Die Themen sind erkannt, es wird gearbeitet. Doch reicht die Zeit, damit diese Erkenntnis bei der Gesellschaft ankommt und sie umdenken kann?

Es existieren Szenarien, die noch zu null Emissionen bis 2050 führen könnten – und die auch realistisch sind. Aber diese Szenarien sind ungleich teurer, als wenn das Problem jetzt seriös angegangen würde. Die Bevölkerung muss daher immer wieder von allen Seiten mit dem Thema konfrontiert werden. Sonst geht es so lange so weiter, bis es definitiv zu spät ist. Handlungsbereit sind aber nur jene, die den Klimawandel als wichtigstes Problem anschauen. Vor Covid-19 war der Klimawandel schon prioritär. Und irgendwann wird ihn auch die Bevölkerung in der Schweiz wieder priorisieren. Die Frage ist bloss, ob das noch rechtzeitig geschehen wird.

Prof. Dr. Isabelle Stadelmann

Professorin für Vergleichende Politik

Prof. Dr. Isabelle Stadelmann ist Professorin für Vergleichende Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Sie ist ausserdem Mitglied des Oeschger Centre for Climate Change Research der Universität Bern. Ihr Forschungsfokus liegt auf den Bereichen der öffentlichen Politik, der direkten Demokratie sowie der politischen Verhaltens- und Einstellungsforschung.

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